Ein Jahr im Eis
Die Überwinterung der „Dagmar Aaen“
von Uwe Agnes und Bernd Siering
45 min, WDR die story 2011

Mit einem beunruhigenden Knirschen schiebt sich das kleine Fischerboot auf die Eisschollen. Hinter dem Heck zeigt sich noch der schmale Streifen Wasser im Treibeis, durch den wir uns bis hierher getastet haben. Vor uns aber liegen die Schollen dicht an dicht. Wenn wir hier nicht durchkommen, könnte unsere Drehreise beendet sein, bevor sie richtig angefangen hat.
Es ist ein eisiger, grauer Februartag in Grönland, ganz in der Nähe des Orts Upernavik. Wir sind unterwegs zur „Dagmar Aaen“, dem Schiff des Abenteurers Arved Fuchs, das wenige Meilen entfernt in einer Bucht überwintert – eingefroren im Eis. Im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks drehen wir für das Format „die story“ eine 45-minütige Reportage über dieses Abenteuer.
Die Crew besteht aus drei Männern: Martin Varga kommt aus Deutschland, Remy Toukouda stammt aus der Südsee. Der Kapitän an Bord ist Kai Meibaum, Bootsbauer aus der Schweiz. Für die Drei geht darum, sich und das Schiff in einer feindlichen Umgebung unbeschadet durch den Winter zu bringen, die lange und finstre Polarnacht zu überstehen – und nicht zuletzt während der monatelangen Isolation in der Einsamkeit miteinander zurecht zu kommen. Gleichzeitig betreut die Mannschaft eine Mess-Boje des Max-Planck-Instituts für Meteorologie. Mit ihrer Hilfe soll beobachtet werden, wie und unter welchen Bedingungen sich über den Winter das Meereis bildet und im Sommer wieder schmilzt. Die Daten sind wichtig für die Erstellung besserer Klima-Modelle.
Der Fischer, der uns zu den Überwinterern bringen soll, schafft es, nachdem er etliche Male vor- und zurückgefahren ist, das Treibeis auseinander zu schieben - mit der gebotenen Vorsicht, denn schließlich steuert er ein Kunststoffboot und keinen Eisbrecher. Endlich gelangen wir wieder in offeneres Wasser.
Es ist schon unsere zweite Reise hierher. Das erste Mal waren wir im November hier. Damals war das Meer rings um Upernavik noch vollständig offen, und wir konnten ohne Probleme auf direktem Weg im Schlauchboot dorthin gelangen. Jetzt versperrt das Eis diese kürzere Route. Wir müssen einen großen Umweg fahren und das letzte Stück zu Fuß gehen - falls das Eis uns durchlässt. Wer weiß, wie es hinter der nächsten Ecke aussieht.
Wäre es ein Winter, wie ihn die Menschen hier kennen, wäre das Meer dick zugefroren und wir könnten mit dem Hundeschlitten zur „Dagmar Aaen“ fahren. Aber in diesem Jahr ist nichts wie gewohnt. Während Deutschland vor Kälte zittert, hat es hier noch kurz vor Weihnachten geregnet, und selbst jetzt, im Februar, hat sich kaum Meereis gebildet. Die Grönländer diskutieren längst nicht mehr über den Klimawandel – sie erleben ihn jeden Tag.
Unser Boot nimmt an Fahrt auf und der Wind beißt im Gesicht. Die Kälte kriecht in die Knochen, trotz unserer Polarkleidung. Als wir bei der Zwischenlandung in Kangerlussaq, einer ehemaligen US-Airbase, aus dem Air-Greenland-Airbus stiegen, schlugen uns eisige –30°C entgegen. Das machte rasch klar, dass es gut gewesen war, trotz Klimawandels für grimmige Kälte zu planen.
Im Vorfeld hatten wir Schilderungen wahren Schreckens von Dreharbeiten in kalten Gefilden zu hören bekommen. Kameras, die, einmal draußen in der Landschaft tiefgekühlt und, dann wieder drinnen benötigt, sich durch rasch gefrierendes Kondenswasser zu Eisblöcken verwandeln, Video-Kopftrommeln, die triefend nass den Dienst einstellen und Akkus, die nur noch einen Bruchteil der Nennleistung abgeben. Zusammengefasst: Kameramänner, die kalte Füße bekommen.
Es war offensichtlich, dass je weniger Mechanik und bewegliche Teile sich an der Kamera befänden, desto weniger potenzielle Fehlerquellen nach Grönland reisen würden. Wir entschieden uns daher, bei dieser Produktion komplett bandlos zu arbeiten und die Reportage mit der JVC HM-700 zu drehen. Die Kamera verfügt über zwei Slots für SDHC-Karten der Klasse 6 oder höher. 8 MB Speicherplatz reichen für etwa 24 Minuten Aufnahme in der höchsten Auflösung von 1920x1080. Wer schon mit dem noch bandbasierten HDpro-Camcorder GY-HD100 gearbeitet hat, braucht sich kaum umzustellen. Der HM-700 ist gleichfalls ein vergleichsweise leichter und kompakter Camcorder mit dem gewohnten und bewährten Handling großer Broadcast-Camcorder. Der Verzicht auf ein Bandlaufwerk macht das Gerät noch robuster, und nicht zuletzt reichen auch die Akkus viel länger. Kälte, Schnee, modrige Luft unter Deck - mit dem leichten Beigeschmack von alten Socken und jungen Raubtieren – hat die Kamera problemlos weggesteckt, sieht man einmal gründlich von beschlagenen Linsen ab, deren beschmierte Oberflächen kaum zu reinigen waren.
Wir haben es fast bis zur Dagmar Aaen geschafft. Es ist fast Mittag, aber schon beginnt es wieder zu dämmern Der Fischer setzt uns an Land ab, und nach einem halbstündigen Fußmarsch sind wir wieder an Bord. Seit dem letzten Mal sind nicht nur die Bärte und die Haare gewachsen. Man merkt der Crew an, dass sie seit einiger Zeit im eigenen Saft schmort. Die Konflikte untereinander sind auch für uns, die gerade eben angekommen sind, deutlich spürbar. Die Verfassung der Mannschaft zeigt sich auch an vielen Kleinigkeiten. Ordnung und Disziplin haben gelitten, lange Männerhaare auf dem Boden und in den Geschirrhandtüchern. Ein Trinkglas muss für den Tag reichen, einerlei ob und in welcher Reihenfolge Orangensaft, geschmolzenes Gletscherwasser oder Kakao aus viel Zucker, Milch- und Schokoladenpulver eingefüllt wird.
An der Entwicklung, die seit dem letzten Dreh stattgefunden hat, wird deutlich, dass sich eine solche Überwinterung nicht mit zwei Drehreisen realistisch und vollständig abbilden lässt – das war uns auch schon während der Planung klar. Die Mannschaft musste also auch selbst drehen, mit einfachem Equipment, das trotzdem hohe Qualität zu liefern in der Lage war. Die Wahl fiel auf die äußerst kompakte Festplattenkamera Sony HDR-XR520VE. Der Speicherplatz reichte dank des AVCHD-codierten Materials für einen ganzen Polarwinter, ohne dass gelöscht werden musste. Für besonders schwierige Bedingungen stand ein EWA-Marine Regenschutz zur Verfügung. Zusätzlich war ein tapebasierter HDV-Camcorder an Bord, der aber nach längeren Außendrehs in der Kälte häufig Bildaussetzer lieferte.
Was wir nicht vorausgesehen hatten, war die Tatsache, wie weit diese Dreharbeiten seitens der Mannschaft zu den Konflikten an Bord beitragen würden. Meist beschäftigte sich Martin damit, den Bordalltag und seine Stimmungen und Gefühle aufzuzeichnen – was seinen Kameraden oft zu weit ging, so dass sie sich den Filmarbeiten weitgehend verweigerten. Das bekamen auch wir zu spüren. Der Kapitän beispielsweise war –obwohl Deutsch-Schweizer - nur mit äußerster Mühe dazu zu bewegen, seine O-Tone auf Deutsch abzugeben. Er wollte lieber Englisch reden, mit dem Hinweis darauf, dies sein ein internationales Schiff mit einer internationalen Crew. Die Erfahrung zeigt eben: wenn die Dreharbeiten einfach sind, ist es keine Reportage. Letztlich ist dieser Konflikt auch Teil der Geschichte.
Am Ende der Drehzeit steht hinter unserer Rückkehr nach Hause ein genauso großes Fragezeichen wie hinter unserer komplizierten Anreise. Zwar sind wir mit unserem Fischer verabredet, aber ein Sturm zieht auf und wir wollen versuchen, einen Tag früher als geplant nach Upernavik zu fahren. Als wir im Hafen an Land gehen, fängt es an zu schneien. Nachts tobt der Sturm um den Wohncontainer, den wir zu einem Mondpreis für die Nacht gemietet haben – denn ein Hotel gibt es hier nicht.
Am nächsten Morgen steigt unser Flugzeug steil und pünktlich in den klaren Himmel und bringt uns zurück Richtung Süden. Aus dem Fenster sehen wir die „Dagmar Aaen“ in ihrer einsamen Bucht, ein kleiner Punkt im Weiß der Arktis. Die Mannschaft hat noch drei Monate Winter vor sich – in ihrem Jahr im Eis.